„Die Anlagenzertifizierung ist für die Netzstabilität ein sehr wichtiger Prozess”
- Redaktion
- 11. Oktober 2023
„Die Anlagenzertifizierung ist für die Netzstabilität ein sehr wichtiger Prozess”
Im Januar 2024 tritt eine Neuregelung des Netzanschlussverfahrens in Kraft, was dabei helfen soll, den Solarzubau in Deutschland zu beschleunigen – so sieht es zumindest die Bundesregierung. CarbonFreed-Gründer Marko Ibsch erklärt im Interview, wie das neue Verfahren aussehen wird, was er von den Anpassungen hält und welche Auswirkungen die Änderungen auf sein Unternehmen haben.
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Marko, wie ist das Netzanschlussverfahren in Deutschland aktuell geregelt?
Marko Ibsch: Der Netzbetreiber fordert vom Betreiber einer großen Solaranlage aktuell ein Anlagenzertifikat einer akkreditierten Zertifizierungsstelle. Erst wenn das entsprechende Zertifikat vorliegt und damit die Auslegung und die technischen Gegebenheiten der Anlage durch die Zertifizierungsstellen geprüft wurden, stellt der Netzbetreiber die vorläufige Betriebserlaubnis aus. Erst dann darf die Anlage einschalten und Strom einspeisen. Von den Anlagenzertifikaten gibt es in Deutschland derzeit zwei Varianten: das Anlagenzertifikat Typ-B für Anlagen mit einer Wechselrichter-Ausgangsleistung von 135 bis 950 Kilowatt (kW); und das Anlagenzertifikat Typ-A für den Anschluss von noch größeren Dach- und Freiflächenanlagen.
Macht dieses Verfahren denn so für Dich Sinn?
Marko Ibsch: Ganz grundsätzlich ja! Die Anlagenzertifizierung an sich ist aus meiner Sicht ein sehr wichtiger Prozess, damit die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit in Deutschland nicht gefährdet werden. Wir wollen hierzulande in naher Zukunft 80 Prozent des Stroms mit volatil einspeisenden Anlagen erzeugen. Wenn wir dabei die Systemstabilität auf dem aktuell hohen Niveau halten wollen, brauchen wir Dirigenten und abgestimmte Regeln, damit das Orchester letztlich stimmig klingt – und so die Netzstabilität auf dem aktuellen Niveau gewährleistet bleibt. Der Prozess des Netzanschlussverfahrens ist für die Marktteilnehmer aber häufig auch eine große Herausforderung.
Was meinst Du damit?
Marko Ibsch: Egal mit wem wir sprechen – ob Zertifizierer, Netzbetreiber, PV-Entwickler – alle stöhnen, weil der Ablauf der Netzanschlusszertifizierung sehr komplex, manuell und zeitraubend ist. Die Anlagenbetreiber müssen eine Vielzahl an Informationen an die Ingenieure in den Zertifizierungsstellen liefern, nach denen diese die Anlage dann prüfen. Fehlt ein Wert oder ist eine Information unplausibel, geht das Mail-Ping-Pong los, bis irgendwann endlich alle Daten vorliegen, die für die Prüfung benötigt werden. Das kann schon mal mehrere Monate dauern. Die Folge ist, dass die Anlagen nur mit deutlicher Verzögerung ans Netz kommen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, bringen wir bei CarbonFreed alle Beteiligten auf unserer KI-gestützten Online-Plattform „gridcert“ zusammen. Dort können die für das Anschlussverfahren notwendigen Dokumente direkt gesammelt, analysiert und bewertet werden, was deutlich schneller geht.
Die Bundesregierung hat jetzt angekündigt, das Netzanschlussverfahren zum neuen Jahr anzupassen, um den Prozess zu beschleunigen.
Marko Ibsch: Genau! Das Bundeswirtschaftsministerium hat Änderungen an der Elektrotechnischen-Eigenschaften-Nachweis-Verordnung (NELEV) vorgenommen, in der das Netzanschlussverfahren geregelt ist. Diese Änderungen treten im Januar 2024 in Kraft. Das bedeutet, dass Anlagen bis zu einer Wechselrichterausgangsleistung von 500 kW und einer maximalen Netzeinspeisung von 270 kW zukünftig ohne ein Zertifizierungsverfahren nach Netzanschlussregel VDE AR-N 4110 (Mittelspannungsrichtlinie) ans Netz angeschlossen werden dürfen. Für diese Anlagen reicht zukünftig die deutlich einfachere Variante der VDE AR-N 4105 (Niederspannungsrichtlinie).
Was wird sich durch diese Maßnahme verändern?
Marko Ibsch: Die Anlagen bis 500 kW mit einer maximalen Netzeinspeisung von 270 kW werden nur noch auf Komponentenbasis geprüft, was den Prozess zeitlich verkürzt, so dass der Ausbau von Solarenergie und Windkraft zügiger vorangehen kann. Dagegen ist auch grundsätzlich nichts zu sagen, denn wir brauchen möglichst schnell möglichst viel Sonne und Wind im Stromnetz. Das Problem ist aber, dass niemand mehr genau hinsieht, ob auch die Gesamtanlage netzdienlich geplant und errichtet wurde. In der Praxis zeigt sich aber schon heute, dass nur etwa ein Fünftel der nach VDE AR-N 4110 zertifizierten Anlagen auch tatsächlich korrekt ausgelegt sind – vier Fünftel der Anlagen sind falsch parametriert und verhalten sich damit nicht wie benötigt, um das Stromnetz auch zukünftig stabil zu halten. Und das wird zu einem richtig großen Problem, wenn zukünftig immer mehr Anlagen ans Netz kommen. Die Zahl der einspeisenden Solar- und Windkraftanlagen muss in den kommenden Jahren ja noch kräftig zulegen, wenn wir die Energiewende schaffen wollen.
Was wäre denn die Folge, wenn immer mehr falsch geplante und errichtete Anlagen in das Stromnetz integriert werden?
Marko Ibsch: Darüber kann ich nur mutmaßen. Fakt ist aber, dass in den vergangenen Jahren die Redispatch-Maßnahmen, also die aktiven Eingriffe der Netzbetreiber, um das Netz zu stabilisieren, schon deutlich angestiegen sind. Und das ist auch auf die zunehmende Zahl von Solar- und Windkraftanlagen zurückzuführen. Die Netzbetreiber laufen also bereits jetzt am Limit – auch wenn das in Deutschland nur wenige Menschen mitbekommen. Sollten in den kommenden Jahren tausende zusätzliche Anlagen ins Stromnetz integriert werden, die sich nicht zu einhundert Prozent vorhersehbar verhalten, könnte es vermehrt zu Events im Stromnetz kommen. Deshalb sind von der Änderung des Netzanschlussverfahrens durch das BMWK weder die Netzbetreiber noch die Zertifizierungsstellen begeistert.
CarbonFreed ist von der Maßnahme der Bundesregierung ebenfalls betroffen, weil die Anlagenzertifizierung Typ-B aktuell noch ein wichtiges Feld für Euch ist. Welche Auswirkungen wird die Gesetzesänderung für Euer Unternehmen haben?
Marko Ibsch: Es stimmt, dass wir bei Anlagenzertifikaten Typ-B mit einer Wechselrichter-Ausgangsleistung von 135 bis 500 kW zukünftig wohl etwas weniger unterstützen werden, weil es für die Anlagenbetreiber eben keine Pflicht mehr ist, dieses beim Netzbetreiber einzureichen. Aber CarbonFreed ist auf diese Änderungen vorbereitet. Der Trend geht sowieso zu immer größeren Anlagen – das merken wir bei unserem Auftragseingang schon sehr deutlich. In den vergangenen Monaten lag der Anteil der Anlagen größer als 500 kW bei mehr als zwei Dritteln. Auf unserer Road Map steht ohnehin, dass wir unsere KI-Plattform bis Anfang 2024 auf das Anlagenzertifikat Typ-A erweitern wollen, was uns dann noch mal einen völlig neuen Markt erschließt. Und das wird uns in Zukunft auch ermöglichen, die Zertifizierung von Windkraftanlagen zu beschleunigen, weil die Prozesse hier sehr ähnlich sind. Für die Umsetzung der nächsten Schritte haben wir bereits eine siebenstellige Summe eingesammelt. Wir stehen also bereits in den Startlöchern, um die Entwicklung unseres Unternehmens weiter voranzutreiben.
Du hast gerade schon gesagt, dass weder die Netzbetreiber noch die Zertifizierungsstellen von der Gesetzesänderung begeistert sind. Welche Maßnahmen der Bundesregierung hättest Du Dir stattdessen gewünscht?
Marko Ibsch: Ich hätte mir vom Bundeswirtschaftsministerium gewünscht, dass sie das Übel an der Wurzel packen und sinnvolle Lösungen erarbeiten, um den Prozess des Netzanschlussverfahrens grundlegend zu verbessern. Mit der jetzigen Gesetzesänderung werden nur die Symptome behandelt, aber nicht das Problem an sich gelöst. Wenn die Zahl der neuen Solar- und Windkraftanlagen tatsächlich so ansteigt, wie wir uns das alle wünschen, haben wir schon in wenigen Jahren wieder das gleiche Thema. Die Prozesse der verschiedenen Teilnehmer im Rahmen der Zertifizierung müssen digitalisiert und miteinander verzahnt werden – so wie wir das bei CarbonFreed machen. Digitale Systeme können die Energiewende entscheidend voranbringen, wir müssen es nur wollen.
Vielen Dank für das Gespräch, Marko!
(Die Fragen stellte Jens Secker)
Wenn du mehr über unsere Leistungen und über gridcert erfahren möchtest, findest du hier weitere Informationen.
Hier findest du die Pressemitteilung vom BMWK.